Das alte Jahr verabschiedet sich

Erstellt am 29.12.2020

Heute, während ich diese Andacht schreibe, tut es das so ungemütlich, wie ich es im Rückblick auch empfinde: Die alte Eiche hinter dem Fenster wird vom Sturm ordentlich durchgerüttelt, der Himmel ist entsprechend grau und verhangen und es regnet schon den ganzen Tag. Ich würde so gerne raus gehen…aber daraus wird heute nichts.

Das Wort aus Markus 9,24, das über diesem Jahr stand, kam zunächst ein bisschen mühsam daher: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben.“ Aber selten sind wir mit dem Wort ‚Glauben‘ so sehr konfrontiert worden, wie 2020. Was sollten wir glauben von all den Nachrichten, die uns da seit Februar überrollt haben und deren Auswirkungen sich jetzt wieder so drastisch zugespitzt haben? Wem, welchen Medien sollten wir glauben. Wo eigenes Wissen, eigene Kompetenzen fehlen, müssen wir Anderen glauben und vertrauen. Leicht ist das nicht. Ein „…wer weiß…“ schwingt immer mit.

Christen glauben, dass Gott ihr Leben in all dem im Blick hat. Der Vater des todkranken Sohnes, der Jesus dieses Satz in großer Verzweiflung und Ehrlichkeit entgegenschreit, weiß um die Ambivalenz von Glauben und Zweifel in sich. Er weiß, wie brüchig der Glauben an einen Gott ist, der tatsächlich hört, handelt, und Willens und auch dazu in der Lage ist, einzugreifen. Und in seiner Not spürt er dieses dünne Eis des Glaubens unter seinen Füßen.

Wie viele Menschen haben das in diesem Jahr erleben müssen? Von vielen selbstverständlichen Lebensweisen und schönen Plänen haben wir uns verabschieden müssen. Manche von uns auch von lieben Menschen. Wie viele haben aus ihrem Vertrauen zu Gott heraus – vielleicht aber auch ganz gegen ihre Gewohnheit und trotz allen Zweifelns – vor Krankenhäusern und Altenheimfenstern, oder an den persönlichen Grenzen zu beten begonnen. Hilf denen, die da gerade alleine mit ihrem Leben und vielleicht Sterben zurechtkommen müssen…und hilf mir, dir zu vertrauen, dass du wirklich bist; da bist; für uns da bist… bei uns bist und unsere Namen kennst.

Der Übergang in das neue Jahr ist mit vielen Hoffnungen verbunden. Anders soll es nun bitte werden. Kaum etwas steht mehr für diese Hoffnung, als die Möglichkeit, dass eine Impfung uns zurückbringen wird, was wir so sehr vermissen: Nähe, Gesichter, Hände schütteln, herzlich umarmen, festhalten, singen, (Gottesdienste) feiern, in der Menge baden, reisen, lachen… Aber schon beim Schreiben hüpft der Zweifel daran mit durch die Zeilen. Wir werden sehen.

Ein Wort aus Lukas 8, 36 wird uns in diesem Jahr begleiten:
„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“

Ein Wort, das uns aus dem Glauben ins Handeln führt. Ein Wort, das in allen großen Religionen eine zentrale Rolle spielt. Ein Wort, das in seiner ursprünglichen Bedeutung von Begriffen hergeleitet wird, wie: Schoß, Gebärmutter, Herz (für die Armen und Elenden), tragen, halten, erhalten, hegen, pflegen, ernähren.

Das Bild des Vaters, der Mutter – im eigentlichen Sinn und Auftrag, mit einer Liebe, die mit keiner anderen zu vergleichen ist – steht hier für die bedingungslose Zuwendung Gottes zu uns. Vom ersten Augenblick an sind wir getragen, gehalten, gehegt, gepflegt, ernährt… uns ist gegeben, was zum Leben dient… „So macht ihr es auch!“ Seid genauso barmherzig. Ein klarer Auftrag, der sich in allen heiligen Schriften an alle Menschen richtet, die sich mit einem Gott verbinden. Er hat fast überall Einzug gehalten in die Verfassungen und Rechtsauffassungen der Staaten und prägt die Haltung der Humanisten.

Hier, im Evangelium, ein klarer Auftrag an uns Christen. Hier geht es ums Tun, wie es Erich Kästner nicht treffender formulieren konnte: „Es gibt nichts Gutes, außer, man tut es!“ Nicht, um Gott zu gefallen, sondern, um weiterzugeben, was wir von ihm empfangen. Dafür steht das Bild mit den Schalen.

Die Kirchen haben die ‚Werke der Barmherzigkeit‘ benannt. Ich bin sicher, da ist für jeden und jede was dabei, das er im neuen Jahr 2021 üben kann:

Hungrige speisen 
Durstigen zu trinken geben 
Fremde beherbergen 
Nackte kleiden 
Kranke pflegen 
Gefangene besuchen 
Tote bestatten 
Unwissende lehren 
Zweifelnde beraten 
Trauernde trösten 
Sünder zurechtweisen 
Beleidigern gerne verzeihen 
Lästige geduldig ertragen 
für andere Beten 
die Schöpfung bewahren 

Ich wünsche uns, dass wir das alte Jahr versöhnt, getröstet, im Glauben und Leben weiter geübt, in großen Teilen dankbar, älter, weiser, schöner und auch lächelnd verabschieden können. Und mit schöner Verbundenheit lassen Sie uns das neue Jahr begrüßen: Angeregt durch die Barmherzlichkeit Gottes – selber Barmherzlichkeit im Schilde führen. Mal als Gebende; sicher oft auch als Annehmende.
Vielleicht sehen wir uns an Neujahr ab 14 Uhr in der offenen Kirche?
Bis dahin grüßt Sie herzlich
Ihre Petra Grohnert